Es gibt Situationen, in denen für die Defektrekonstruktion nicht genügend Gewebe aus der direkten Umgebung des Defektes gewonnen werden kann, um das gesamte betroffene Areal zu decken.
Zu den häufigsten Gründe hierfür gehören:
- grosse Defekte;
- Defekte, bei denen mehr als eine Gewebsart rekonstruiert werden muss (z.B. Haut und Knochen);
- Defekte an schwierigen Körperregionen (Kopf und/oder Hals, Unterschenkel);
- Vernarbung des umliegenden Gewebes durch frühere Operationen;
- schlechte Gewebequalität nach Bestrahlung von Tumoren oder wenn frühere rekonstruktive Techniken gescheitert sind.
Im Zentrum der rekonstruktiven Chirurgie steht die sogenannte Lappenplastik. Eine Lappenplastik ist ein Stück körpereigenes Gewebe (Haut, Fett, Muskel oder Knochen oder Kombinationen davon), das von einer entbehrlichen Stelle entfernt und zur Wiederherstellung eines Defektes verwendet wird. Man unterscheidet hier zum einen die „lokale oder gestielte Lappenplastik“, bei der das Lappengewebe in der Nähe des Defektes liegt und nur verschoben wird und zum anderen die „freie Lappenplastik“, bei der das Lappengewebe von einer defektfernen Region entnommen und „frei“ in den Defekt verpflanzt wird.
Beim lokal transplantierten, “gestielten” Lappen bleibt die Durchblutung des Lappengewebes durch den “Stiel” erhalten. Ein frei transplantiertes Gewebestück hingegen kann an seiner neuen Position nur einheilen, wenn es dort wieder an die Blutversorgung angeschlossen wird. Somit muss dieser Lappen mit einem zuführenden und abführenden Blutgefäss (mindestens eine Arterie und eine Vene) entnommen werden. Man spricht hier vom “Gefässstiel“ des Lappens. Diese Blutgefässe werden dann unter dem Mikroskop mit Blutgefässen in der Nähe der Defektes verbunden. So wird sichergestellt, dass Blut durch das Gewebe fliessen und dieses mit Sauerstoff versorgen kann. Die Sicherstellung dieses Blutflusses ist entscheidend für das Überleben und Einheilen des Lappens am Ort des Defekts. In der medizinischen Fachsprache wird diese Technik auch “mikrochirurgische Rekonstruktion” genannt.
Die (medizinischen) Namen der jeweiligen Lappenplastiken enthalten meistens entweder den anatomischen Namen des Gewebestückes, welches entnommen wird oder den Namen des versorgenden Blutgefässes.
Gracilis Lappen
- Gewebe: Gracilis-Muskel, optional zusammen mit Haut
- Entnahmeort: Oberschenkelinnenseite
- Anwendung: Mittelgrosse Defekte, oft für offene Frakturen oder grosse Wunden am Unterschenkel verwendet, Brustrekonstruktion bei kleinen Brüsten
Latissimus dorsi Lappen
- Gewebe: Latissimus dorsi-Muskel, optional zusammen mit Haut
- Entnahmeort: Rücken
- Anwendung: Grosse Defekte, kann auch als Kombinationslappen mit einem Stück Haut entnommen werden, Brustrekonstruktion
Radialis Lappen
- Gewebe: Haut und Unterhautgewebe zusammen mit Radialis-Arterie und -Vene
- Entnahmeort: Unterarm
- Anwendung: Kleine Defekte mit komplexer Form, häufig im Hals-Nasen-Ohren-Bereich verwendet
Anterolateral Thigh (kurz ALT)
- Gewebe: Haut und Unterhautgewebe
- Entnahmeort: Oberschenkelaussenseite (= anterolateraler Oberschenkel)
- Anwendung: Mittelgrosse bis grosse Defekte, häufig im Hals-Nasen-Ohren-Bereich verwendet
Deep Inferior Epigastric Perforator (kurz DIEP)
- Gewebe: Haut und Unterhautgewebe
- Entnahmeort: Unterbauch mit den Perforator-Gefässen der tiefen, inferioren epigastischen Arterie und Vene
- Anwendung: Grosse Defekte, am häufigsten für die Brustrekonstruktion verwendet
Fibula (Wadenbein)
- Gewebe: Fibula-Knochen, optional mit Haut
- Entnahmeort: Unterschenkelaussenseite
- Anwendung: grosse Knochendefekte, häufig nach Tumoren im Bereich des Unterkiefers
Rahmenbedingungen
Die Operation findet immer in Vollnarkose und unter stationären Bedingungen statt. Die Hospitalisationsdauer beträgt in der Regel mindestens 5 Tage.
Operationsdauer
Ca. 4 bis 6 Stunden
Operationstechnik
Unabhängig vom Defekt und des verwendeten Gewebes kann jede mikrochirurgische Rekonstruktion in 3 Schritte unterteilt werden. Meistens wird (zumindest teilweise) in zwei chirurgischen Teams parallel gearbeitet, damit die Operationszeit und die perioperativen Risiken minimiert werden können.
1. Vorbereitung des Defektes
Bei einer Tumorentfernung muss sichergestellt sein, dass der Tumor komplett im Gesunden entfernt wurde. Bei offenen Wunden muss das Wundgebiet nochmals gründlich gereinigt und die Wundränder angefrischt werden . Nicht selten braucht es hierfür eine bis sogar mehrere vorbereitende Operationen. Vom Defekt aus wird über einen erweiternden Hautschnitt eine geeignete Vene und Arterie aufgesucht, an die der Gefässstiel der Lappenplastik angeschlossen werden kann.
2. Lappenhebung
Bei den Muskellappenplastiken wird über einen Längsschnitt, entweder an der Oberschenkelinnenseite (Gracilis Lappen) oder am Rücken (Latissimus dorsi Lappen), der ganze Muskel vom umliegenden Gewebe befreit und zusammen mit seinem Gefässstiel abgesetzt. Die Wunde an der Entnahmestelle kann direkt vernäht werden. Gleiches gilt auch für das freie Knochentransplantat (Fibula = Wadenbein) an der Unterschenkelaussenseite.
Die Hautlappen vom Oberschenkel und Unterarm werden in Form und Grösse genau der Defektgrösse entsprechend entnommen. Wenn möglich werden die Wunden an der Entnahmestelle direkt vernäht. Falls dies nicht möglich ist, wird die Hebestelle mit einem dünnen Hauttransplantat (meistens vom Oberschenkel entnommen) gedeckt. Die Entnahmestelle dieses Hauttransplantates heilt von alleine ohne Narben ab.
3. Mikrochirurgie und Einnaht der Lappenplastik
Unter dem Operationsmikroskop werden mit feinsten Nähten (oft dünner als ein menschliches Haar) die Blutgefässe des Lappenstiels mit den vorbereiteten Gefässen im Bereich des Defektes verbunden. Sobald der uneingeschränkte Blutfluss durch den Lappen sichergestellt ist, kann er definitiv in den Defekt eingenäht werden. Im Falle einer reinen Muskellappenplastik muss der Muskel zusätzlich noch mit einem dünnen Hauttransplantat gedeckt werden.
Nachbehandlung
Die Nachbehandlung nach einem mikrochirurgischen Eingriff ist kritisch. Wie bereits erwähnt ist für das Gelingen der Rekonstruktion der Erhalt einer guten Durchblutung des transplantierten Gewebes massgebend. Besonders in den ersten 24 bis 72 Stunden nach der Operation ist die Nahtstelle der Gefässe anfällig für Störungen der Durchblutung.
Häufige Ursachen sind:
- ein kleines Blutgerinnsel (Thrombus) in einem der Gefässe
- ein abgeknickter oder verdrehter Gefässstiel
- Druck auf den Gefässstiel durch ein Hämatom, Gewebeschwellung oder einen zu engen Verband
Wird eine Durchblutungsstörung rechtzeitig erkannt, kann das Problem meist durch einen relativ einfachen chirurgischen Eingriff behoben und die Rekonstruktion gerettet werden. Dies erfordert ein rasches Handeln.
Aus diesem Grund wird in den ersten 24 bis 72 Stunden nach der Operation die Lappenplastik in regelmässigen, engen Zeitabständen (anfangs stündlich) von entsprechend geschultem Personal kontrolliert, sodass bei der kleinsten Änderung notwendige Massnahmen eingeleitet werden können.
In die Wunden im Bereiche der Lappenplastik wie auch der Entnahmestelle werden meist eine oder auch mehrere Wunddrainagen eingelegt. Diese werden üblicherweise nach 1 bis 3 Tagen entfernt, sobald die Fördermenge minimal ist (Richtwert 30ml pro 24h).
Bei Rekonstruktionen an den Beinen müssen diese für 4 bis 5 Tage konsequent ruhig gehalten und hochgelagert werden. Ab dem 5. Tag wird mit der Mobilisation und dem sogenannten „Lappentraining“ begonnen. Das Lappengewebe muss sich an seiner neuen Lage erst an eine etwas andere Blutflusssituation in verschiedenen Positionen gewöhnen. Somit wird das betroffene Bein anfänglich mehrmals täglich nur für kurze Zeitabschnitte nach unten gehalten. Über die folgenden 3 bis 4 Tage werden die Zeitintervalle verlängert, bis eine uneingeschränkte Mobilisation ohne Beschwerden und ohne Zeichen von Durchblutungsstörungen der Lappenplastik erreicht wird.
Einem mikrochirurgischen Eingriff geht oft eine mehr oder weniger lange Hospitalisation mit entsprechend schwerer Vorerkrankung und/oder Begleiterkrankung (z.B. Tumor oder Unfall) voraus. Es ist somit häufig, dass auch bei einem reibungslosen Verlauf der Rekonstruktion für die ganzkörperliche Erholung eine längere Hospitalisation oder auch Übertritt in eine Rehabilitationsklinik bzw. ein Kuraufenthalt notwendig ist.
Besonders Muskellappen sind in den ersten Wochen bis Monaten nach der Operation noch stark geschwollen. Das Tragen eines Kompressionsstrumpfes hilft einem rascheren Rückgang der Schwellung und einer allgemeinen Verbesserung der Kontur und der Narbenbildung.
Nachkontrollen
Routinemässige Nachkontrollen durch unsere Fachpersonen Wundpflege und das Ärzteteam erfolgen in unserer Praxis, üblicherweise erstmals 1 Woche nach Spitalaustritt. Die Häufigkeit der Verlaufskontrollen richtet sich nach dem Heilungsverlauf. Auf Wunsch kann auch Ihr Hausarzt/-ärztin und/oder die Spitex in die Nachsorge eingebunden werden.
Physiotherapie/Narbenpflege
Bei derart grossen Wundflächen und langen Hautschnitten ist die Wundheilung für Ihren Körper eine besondere Herausforderung. Hierbei haben Flüssigkeitseinlagerungen (Ödeme) durch Lymphstau einen wesentlichen Einfluss. Physiotherapeutische Massnahmen wie Lymphdrainage und Narbenmassage können den Heilungsverlauf stark positiv beeinflussen und gehören bei uns zur standardmässigen Nachbehandlung.
Je nachdem was Ihr Grundleiden war (z.B. ein Unfall) kann diese Behandlung auch mit allfällig sonst auch notwendigen Physiotherapie kombiniert werden.
Wie bei jeder Operation bestehen auch bei der mikrochirurgischen Defektrekonstruktion sowohl chirurgische wie auch narkosebedingte Risiken. Begleiterkrankungen wie Diabetes, Übergewicht, Immunschwäche sowie Rauchen erhöhen das Risiko von chirurgischen und/oder narkosebedingten Komplikationen wesentlich.
Allgemeine Risiken jeder Operation sind
- Nachblutung
- Infektion
- Thrombose (inklusive Lungenembolie)
Die häufigsten chirurgischen Komplikationen einer mikrochirurgischen Rekonstruktion sind
Komplikationen im Bereich des Lappens
- Durchblutungsstörungen und im schlimmsten Fall Verlust eines Teils oder der ganzen Lappenplastik
- Nachblutungen (Hämatom)
- Wundheilungsstörungen
- Nicht-Angehen des Hauttransplantates (bei Muskellappen)
- Infektionen
Komplikationen im Bereich der Entnahmestelle
- Wundheilungsstörungen
- Hautnekrose
- Hämatom
- Serom
- Unschöne Narben
- Nicht-Angehen des Hauttransplantates (bei Hautlappen)
- Gefühlsstörungen der Haut
- Kältegefühl in den Fingern bei Entnahme am Unterarm
Muss ich vor der Operation meine eigenen Medikamente absetzen?
Die meisten Medikamente können Sie vor und nach der Operation weiter einnehmen. Gewisse Medikamente wie Blutverdünner (Aspirin, Marcoumar) oder Hormone können das Komplikationsrisiko erhöhen und sollten für die Operation pausiert werden. Wir bitten Sie, bei der Operationsvorbesprechung eine Liste mit all Ihren Medikamenten und den Dosierungen mitzubringen.
Muss mein Hausarzt oder der behandelnde Spitalarzt spezielle Abklärungen vor der Operation veranlassen?
Mikrochirurgische Rekonstruktionen sind technisch anspruchsvolle Operationen mit mehreren Teilschritten und einer entsprechend langen Operationsdauer. Obwohl im Durchschnitt die Operation in ca. 4 bis 6 Stunden durchgeführt werden kann, gibt es Umstände, die die Operationszeit wesentlich verlängern. Vor der Operation muss in jedem Fall geklärt werden, ob bei Ihnen Begleiterkrankungen (insbesondere Herz-Kreislauf- und Lungenprobleme) bestehen, die mit einem erhöhten Narkoserisiko verbunden sind. Wir bitten Sie, möglichst ausführliche Informationen zu Ihrer medizinischen Geschichte bereitzuhalten, damit wir gemeinsam mit Ihrem Arzt die notwendigen Untersuchungen besprechen und veranlassen können. Sollte bei Ihnen der Verdacht auf eine Blutgerinnungsstörung bestehen, dann muss dies vorgängig abgeklärt und gegebenenfalls behandelt werden.
Wie weiss ich, welche Art Rekonstruktion für mich die beste ist?
Diese Frage kann nicht pauschal beantwortet werden. Alle Techniken haben allgemeine, aber auch individuelle patientenspezifische Vor- und Nachteile. Wesentliche Faktoren, die die Wahl beeinflussen können, sind: Defektgrösse, Defektlokalisation und Defektursache, allfällige Voroperationen oder Begleiterkrankungen und/oder Verletzungen. Sämtliche Therapiemöglichkeiten und unsere Empfehlungen in Ihrem speziellen Fall werden wir im Rahmen der Konsultation mit Ihnen besprechen.
Welche Abklärungen müssen vor einer Rekonstruktion mit Eigengewebe durchgeführt werden?
Je nach Lokalisation des Defektes und allfälligen Begleiterkrankungen oder Verletzungen bedarf es einer Röntgenkontrastmitteldarstellung der Blutgefässe. Diese Untersuchung gibt dem Chirurgen wertvolle Informationen über die Grösse und den Verlauf der Blutgefässe, was bei der Planung der chirurgischen Vorgehensweise und deren Durchführung hilft.
Ich hatte bereits eine Rekonstruktion, die gescheitert ist. Kann ich trotzdem eine erneute Rekonstruktion haben?
In den meisten Fällen ja. Die Art der Rekonstruktionen, die bei Ihnen noch in Frage kommen, hängen jedoch von der vorherigen Rekonstruktion und Ihren körperlichen Gegebenheiten ab.
Wie oft scheitert eine mikrochirurgische Rekonstruktion mit Eigengewebe?
Statistisch gesehen scheitert die Rekonstruktion mit Eigengewebe in ca. 1 bis 5 % aller Fälle.
Was passiert, wenn der Gewebelappen abstirbt?
Weil nicht durchblutetes Gewebe ein wesentlicher Infektionsherd darstellt, muss das abgestorbene Gewebe chirurgisch in Narkose entfernt werden. Manchmal muss die verbleibende Wunde vorübergehend mit speziellen Verbänden (z.B. Vacuumverband) behandelt werden. Grundsätzlich wird zeitnah ein erneuter Versuch einer Rekonstruktion angestrebt. Der Zeitpunkt und die Technik hängen von verschiedenen Faktoren ab und werden individuell mit Ihnen besprochen.
Kann mein Körper das Gewebe des Lappens abstossen?
Nein. Da es sich um Ihr eigenes Gewebe handelt, wird es von Ihrem Körper auch weiterhin als solches erkannt. Sofern eine gute Durchblutung gewährleistet ist, kann es nicht abgestossen werden.
Kann ein Familienmitglied Gewebe für eine Rekonstruktion spenden?
Nein. Dies würde bedingen, dass Sie wie nach einer Organtransplantation lebenslang Immunsuppressiva nehmen müssten. Die Risiken und Nebenwirkungen dieser Medikamente rechtfertigen keine nicht-lebensnotwendige Behandlung, für die es eigentlich immer eine alternative Option gibt.
Muss ich vor der Operation mit dem Rauchen aufhören?
Wir empfehlen in jedem Fall mindestens 6 Wochen vor der geplanten Operation mit dem Rauchen aufzuhören. Nikotin als chemischer Stoff wirkt unter anderem gefässverengend. Dies führt dazu, dass die Durchblutung im Operationsgebiet zusätzlich eingeschränkt und somit das Komplikationsrisiko erheblich erhöht wird. Rauchen kann sogar als alleinige Ursache zum kompletten Versagen der Rekonstruktion führen.
Muss ich mich nach der Operation langfristig körperlich einschränken?
Dies hängt von der ursprünglichen Grösse, Lokalisation und Ursache des Defektes sowie der durchgeführten Rekonstruktion ab. Grosse Rekonstruktionen brauchen oft mehrere Wochen, bis sie komplett geheilt sind. Nach dieser Heilungsperiode gibt es rein aufgrund der Rekonstruktion alleine meist keine besonderen Einschränkungen. Oft bringt aber die zugrundeliegende Erkrankung oder der Unfall eine gewisse Funktionseinschränkung mit sich.
Wie lange kann ich nach der Operation nicht arbeiten?
Dies hängt von der Grundursache des Defektes sowie Ihrer Arbeitstätigkeit ab. Körperlich leichte Arbeit, wie z.B. Bürotätigkeit, kann oft nach ca. 4 Wochen wieder aufgenommen werden.
Übernimmt die Krankenkasse die Kosten einer mikrochirurgischen Rekonstruktion?
Ja. Es handelt sich bei einer Defektrekonstruktion fast ausnahmslos um eine medizinisch indizierte Behandlung, die von der Krankenkasse oder Unfallversicherung übernommen wird.